Und plötzlich, unerwartet bin ich in einen Rückfall gerutscht. Anfangs langsam geschlittert und dann doch tief hineingefallen. Ich war so beschäftigt mit dem kleinen Ball aus Fell und der Suche nach einer neuen Wohnung, dass alle existentiellen Fragen plötzlich in den Hintergrund gerutscht waren. Ich fühlte mich immer noch irgendwie “nicht richtig”, aber zumindest waren die obsessiven Gedanken verschwunden. Zumindest ein Problem schien gelöst. Leider hatte ich vergessen, dass die Wohnungssuche irgendwann ein Ende finden und nicht jeder Moment mit Flauschball für immer neu und aufregend genug sein würde, um mich von dem eigentlichen Problem abzulenken. Denn genau das war es: wunderschöne, alles konsumierende Ablenkung. Die irgendwann ein Ende finden musste.
Die Wohnungssuche wurde aufgegeben, Flauschball wurde Teil unseres Alltags und plötzlich schlichen sich die Gedanken wieder ein, die sich auf wundersam schnelle Weise mit den gewohnten mentalen Zwängen paarten. Zwei, drei Tage lang war ich wieder Vollzeit-beschäftigt mit Fragen wie: “Gibt es “mich” überhaupt?” , “Kann ich Dinge entscheiden oder entscheidet sich alles in meinem Unterbewusstsein?” , “Ist unser Gefühl von “Selbstwirksamkeit” nur eine Illusion?” , “Sind wir alle in Wirklichkeit Bio-Roboter?” , “Was bedeutet “ich”? , “Wer oder was bin “ich”? , “Bin ich dieser Körper?” , “Entstehe “ich” nur in meinem Gehirn?”, “Warum bin ich überhaupt ich?” – und das vielleicht Schlimmste daran sind nicht mal die Fragen selbst, sondern das introspektive “Hinein-Starren” in “mich”. Das ständige Beobachten.
Eine lange Zeit seit dem letzten Eintrag, Viel passiert, viel Veränderung. Ein neuer Mitbewohner ist eingezogen. Ein kleiner, flauschiger Mitbewohner, der uns die Tage versüßt. Es ist anstrengend, ohne Frage. Oft weiß ich nicht mehr, wie ich meine Tage strukturieren soll. Dieser kleine Ball aus Fell nimmt auf einmal so viel Zeit in Anspruch, dass ich das Gefühl habe, dass für Arbeit und Putzen keine Zeit mehr bleibt. Und trotzdem – er hat mir die existentiellen Fragen genommen. Er hat das ständige Grübeln mitgenommen. Plötzlich bleiben nur noch die Fragen, wo man heute mit ihm spazieren geht, was die schönste Route wäre, wo wir uns alle am wohlsten fühlen werden. Und das ist definitiv der Wald. Wald-Luft riechen, das Laub und das Moos auf umgefallenen, knarzenden Bäumen. Holz-Geruch. Wald-Geruch. Ein sonniger Herbst allein mit Mann und Hund im Laub zwischen Bäumern. Was kann es besseres geben? Ich weiß es nicht mehr.
Wir streunen querfeldein durch Laub und Matsch, halten uns an Ästen fest, um nicht davon geschwemmt zu werden. Und Flauschball dazwischen, freudig aufgeregt hüpft er davon wie ein kleines Reh. Und plötzlich merke ich: ich bin glücklich. Vielleicht nicht euphorisch, übertrieben glücklich, aber zufrieden. Sehr. Ich sehe in die Bäume und rieche das Moos und fühle mich immer noch fremd in der Welt, aber es ist, als hätte jemand plötzlich einen Anker geworfen. Als würde mich auf einmal etwas am Boden halten, vor dem Davonfliegen retten. Ohne eine Ahnung davon zu haben, tut dieses kleine Wesen so etwas Großes für mich.
Ich habe diese Woche viel über Angst und Akzeptanz nachgedacht und dabei feststellen müssen, dass ich noch viel mehr Angst habe, als ich mir eingestehen will. Und noch viel weniger Akzeptanz für meinen Zustand, als ich gerne hätte. Ich vermute, dass, wenn ich meinen Zustand 100% akzeptieren würde und keine Angst mehr davor hätte, es mir zumindest ein wenig besser gehen würde. Beides ist schwierig. Radikale Akzeptanz fühlt sich an wie Aufgeben. Als würde ich mich dann damit abfinden, dass es für immer so bleibt und als würde es deswegen dann auch für immer so bleiben. Und diese Vorstellung ängstigt mich sehr. Für immer nicht mehr ich-selbst sein, für immer fremd und abgeschottet in dieser Welt – und auch nicht in ihr, sondern irgendwo anders, einsam und isoliert in meinem Kopf, ohne Zugang und Verbindung zu irgendwem und irgendwas. Und dennoch versuche ich daran zu arbeiten. Weniger Angst und mehr Akzeptanz, weniger im-Kopf-verändern-wollen, mehr fühlen. Ich habe die leise Vermutung, dass ich mich mir selbst näher fühle, je näher ich meinen Gefühlen komme.
Gestern habe ich lange mit S. darüber gesprochen, welche Gedanken dazu beitragen diesen seltsamen Zustand am Leben zu erhalten. Ich redete sehr viel und am Ende weinte ich ein bisschen. Danach ging es mir besser. Als hätte ein Teil von mir Raum bekommen, der sonst lieber versteckt bleibt. Und als würde das ein wenig der Entfremdung lösen, zumindest für kurze Zeit.
Ich habe mich seziert – Aufgetrennt, In kleine Stücke geschnitten säuberlich zerkleinert Um dann mit der Pinzette Meine Überreste Unters Mikroskop zu legen
Und ich starrte sie an So lange Bis alles, was vorher eins war nichts mehr war
Aus Teilen von mir Wurden fremde Entitäten Die schwammig, unklar Mir aus den Händen glitschten
Bewusstsein und Körper Gedanken und Erinnerungen Gefühle, Wünsche und Träume Vereinzelte blutige Brocken Herausgeschnitten Herausgehackt Bereit für den Müll
Das einzige, was ich kann, das einzige, was ich immer konnte, ist abhauen. Mich mit Joints, Satsangs, Alkohol oder Tabletten sedieren. Flüchten. Vor der Welt und vorallem vor mir. Vor Themen, denen ich mich längst hätte stellen sollen – Der Unzufriedenheit mit meinem Körper, der Angst vor dem Sterben, der Unfähigkeit, mir selbst Gutes zu tun. Der Angst vor sozialem Kontakt, der Angst vor dem Leben, der Angst vor mir selbst. Angst ist DAS Thema.
Ich war und bin immer noch Profi meiner eigenen Selbstzerstörung. Und nie reicht es. Nie sind es genug Pillen, nie ist es genug Schnaps. Damals waren es nie genug Satsangs und nie genug Joints. Ich will hier sein, aber ständig brauche ich etwas, was mich „hier“ rausholt. Wie paradox und bescheuert.
In den Zeiten, in denen ich vollgepumpt war mit Non-Dualitäts-Weisheiten hatte ich das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Endlich einen Weg gefunden zu haben, mit mir selbst und der Welt in Frieden zu sein. Die einzige Phase, in der ich nicht mehr ständig weg wollte. Zumindest, solange ich mir den täglichen Schuss Advaita gönnte.
„Damals“, vor drei Jahren, bevor „es“ passiert ist, habe ich meine Wahrnehmung nicht angezweifelt. Ich habe mir all diese seltsamen existentiellen Fragen nicht gestellt. Ich habe nicht permanent getestet, wie „präsent“ ich bin. Ich habe mich nicht permanent gefragt, wie real sich die Welt gerade anfühlt oder ob ich mich wie „ich“ fühle. Ich war einfach ich und die Welt war die Welt. Mein Fokus war nicht so verdreht. Vor ein paar Tagen las ich einen Beitrag über Depersonalisation/Derealisation, in dem jemand schrieb, dass depersonalisierte Menschen ihr Leben nicht mehr „inside out“, sondern „outside in“ leben und das macht vollkommen Sinn. Früher habe ich nicht in mich hineingestarrt, auf der Suche nach einem „ich“, ich habe aus meinem „ich“ hinaus nach draußen gesehen.
Ich weiß allerdings immer noch nicht so richtig, was ich damit anfangen soll. Die Ratschläge, die man am meisten hört, sind: lebe dein Leben weiter wie zuvor – tue so, als gäbe es die DP gar nicht – vergiss, dass du es hast – denke nicht darüber nach – akzeptiere deinen Zustand. Und ja, es macht Sinn. Ich habe nicht darüber nachgedacht, bevor es mich getroffen hat. Aber es scheint inzwischen ein so eingefahrenes, unterbewusstes Muster zu sein – das ständige Checken, das ständige Drüber-Nachdenken – dass ich nicht mehr weiß, wie ich es unterbrechen soll. In der Zeit, in der es sich „angeschlichen“ hat, gab es Fluktuation, wechselte meine Aufmerksamkeit zwischen normalem Erleben und dieser seltsamen Welt-und-Selbst-Wahrnehmung hin und her, bis sich schließlich eine Art Schalter in meinem Kopf umlegte, den ich nicht mehr zurückswitchen kann. Und je mehr ich mich anstrenge, es zu tun, desto schlimmer wird es.
Und ich sehe den Zusammenhang zu anderen Ängsten, die ich in meinem Leben hatte. Je mehr ich darauf fokussierte, je mehr Angst ich davor hatte, je mehr ich darüber nachdachte, desto schlimmer wurde das Symptom, desto schlimmer wurde genau das, wovor ich Angst hatte. In den schlimmsten Zeiten meiner Emetophobie war mir dauernd übel. Und ich hatte dauernd Angst davor, mich zu übergeben, dachte ständig darüber nach, was passieren würde, wenn es passieren würde. Wieso fällt es mir jetzt so schwer zu glauben, dass es das gleiche Phänomen ist? Nur, weil es ein seltsameres Symptom ist? Es ist ein so absolut unfassbares, ungreifbares Erleben, das mir unvorstellbar wäre, wenn ich es nicht selbst erleben würde. Es ist so fernab jeglicher „normal gelebter Realität“, dass es schwerfällt mir einzugestehen, dass ich mir das Ganze nur „herbeirede“. Und vielleicht spielt „herbeireden“ alles auch zu sehr herunter. Soweit ich weiß, gibt es genug physiologische Zusammenhänge, als dass man sagen könnte, dieser Zustand wäre komplett „eingebildet“ – aber ich bin mir sicher, dass (zumindest in meinem Fall) sehr viele Teile davon rein gedanklicher Natur sind.
Manchmal versuche ich mir vorzustellen, ich hätte von all den spirituellen Theorien nie etwas gehört. Es hätte Advaita und Non-Dualität niemals in meinem Leben gegeben. Ich hätte niemals gehört, dass ich nicht mein Körper, meine Gefühle oder meine Gedanken bin. Ich wäre niemals davon überzeugt gewesen, dass wir alle nur „Bio-Roboter“ sind, die keine freie Wahl haben. Mir hätte niemals jemand erzählt, dass es „mich“ nicht gibt.
Was wäre dann? Ich glaube, ich wäre einfach nur ich – mit allen „Ichs“, die ich haben könnte. Ich schmecke Freiheit und Leichtigkeit in der Vorstellung und trotzdem bleibt es nur eine Idee. Ich kann nicht jeden einzelnen Advaita-Gedanken aus meinem Gehirn ausradieren, wie soll das nach so vielen Jahren gehen?
Wie wird man eine so tief-sitzende Überzeugung los? Wie kann ich damit leben, dass ich mich niemals zu 100% vom Gegenteil überzeugen kann? Dass ich niemals 100% sicher sein werde, dass meine Existenz nicht nur eine Idee ist? Wie höre ich auf, etwas zu glauben, wenn es keine Beweise für das Gegenteil gibt? Ich versuche mich für den Glauben zu entscheiden, der scheinbar besser für mich wäre, aber es ist verdammtverdammtverdammt schwer, wenn ich es nicht fühlen kann.
Die ersten paar Male, als ich es nach Jahren wieder versuchte, saß ich mit einem leerem Kopf vor einem leeren Bildschirm und wusste weder mit ihm noch mit mir etwas anzufangen. Ein paar Worte tröpfelten aus mir heraus, aber ich hatte keine Ahnung warum und wozu. Es fühlte sich unnatürlich und fremd an. Ich sah dabei zu, wie meine Finger über die Tastatur stolperten, war aber nicht wirklich dabei. Das Gefühl, der Schreibende zu sein, war verschwunden. Das war vor 4 Jahren. Inzwischen fühle ich mich mit dem schreibenden und denkenden Teil in mir wieder etwas mehr verbunden, was bedeutet: Ich kann wieder schreiben! Und: Es gibt so vieles, was gesagt werden möchte, gesagt werden muss. So vieles, was endlich raus muss, raus aus meinem Kopf. Viele Themen, über die ich schreiben möchte, viele Erfahrungen, die geteilt werden wollen. Es ist abgefahren, wie lange ich blockiert war, ohne es überhaupt zu bemerken.
Ich habe nur noch geschrieben, wenn etwas wirklich Beeindruckendes passiert oder ich sehr(!) traurig, ängstlich oder unzufrieden war. Positives fasste ich manchmal stichpunktartig in Listen zusammen, die ich „Lebenswert-Listen“ nannte. Darin sah ich einen gewissen psychologischen Wert. Aber Dinge auszuformulieren und mich tiefer mit ihnen zu beschäftigen, schien komplett sinnlos zu sein. Jedes Wort, was ich über meine Vergangenheit, meine Zukunft oder alltägliche Befürchtungen, hätte verlieren können, war nicht „deep“ genug, führte mich scheinbar nicht zur Selbsterkenntnis, sondern lenkte nur davon ab. Verstrickte mich in „Ego-Geschichten“, die nicht nur wertlos, sondern auch schädlich waren. Die man nicht fördern sollte. Davon war ich überzeugt.
Ich mag Katzen und Wälder. Leere Straßen und Friedhöfe. Kapuzen im Gesicht und Regen auf den Wangen. Eichhörnchen und Herbst. Spaziergänge, Cappuccino und Kopfhörer. Zigaretten und Botucal.
Ich mag gemeinsam in der Nacht wach liegen. Reden über Dinge, die unaussprechlich sind. Flauschige Decken und warmer Baldrian-Tee. Panna Cotta und russischer Zupfkuchen. Pommes mit genug Majonnaise. Horror-Filme und Zeichentrick. Einhörner, Glitzer, Dinge in Rosa und Dinge in Schwarz. Wind in den Haaren, Bäume und das Gefühl, Zuhause zu sein.
WARUM?
Ich habe schon früh angefangen zu schreiben. Erst (danke Wolfgang Holbein!) Fantasy-Geschichten, dann Tagebücher, dann Gedichte, zwischendurch dann wieder Geschichten, die aber nie fertig wurden. Wenn mich als Kind jemand fragte, was ich werden wollte, sagte ich immer: „Schriftsteller“. Doch dann entdeckte ich Eckhart Tolle, Advaita und Nondualität. Und damit auch viele Konzepte. Eins davon: „Lebe immer und ausschließlich im Hier und Jetzt“ und „Gedanken trennen dich von diesem Moment“. Der Frieden, der mir versprochen wurde, war so anziehend, dass ich all diese Konzepte nicht hinterfragte. Ich war bereit, alles für das Leben im „hier und jetzt“ zu geben. Das bedeutete leider auch, dass meine Tagebücher mit der Zeit immer weniger Einträge hatten. Sobald ich versuchte, etwas aufzuschreiben, fiel mir auf, dass es sich entweder auf die Vergangenheit oder Zukunft bezog oder auf einem Gedanken beruhte. Oft saß ich abends vor dem Buch und starrte auf die leeren Seiten, unfähig etwas zu finden, was des Aufschreibens wert gewesen wäre.
Nach vielen Jahren der Suche nach Erleuchtung und Erkenntnis brach dann ziemlich plötzlich alles zusammen. Seitdem versuche ich mich wieder zusammen zu setzen, mich selbst und meine Menschlichkeit wiederzufinden, jenseits von Erleuchtung und Erwachen. Und das Schreiben ist ein Teil davon.